Sabine Offe (Universität Bremen)
Rede zur Eröffnung der Ausstellung “Prager Tagebuch von Petr Ginz“ in Bremen am 14. 1. 2007
 
     
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Die Ausstellung, die am 14. Januar in Bremen eröffnet wird, ist Teil eines Veranstaltungsprogramms für die Stadtöffentlichkeit, das in Zusammenhang mit dem 27. Januar, dem 1998 vom damaligen Bundespräsidenten begründeten “Tag des Gedenkens an die Opfer des NS“, stattfindet. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Sieht man sich die Zahl der Angebote von Gedenkveranstaltungen in diesem und in den vergangenen Jahren an, kann man sich, auch wenn man nicht zu denen gehört, die einen “Schlussstrich“ fordern ehe sie überhaupt angefangen haben, sich mit “Gedenken“ zu befassen, einer gewissen Skepsis nicht erwehren gegenüber den Konjunkturen des Gedenkens. Mit wachsendem zeitlichen Abstand zur Geschichte scheint die Zahl von Gedenkveranstaltungen und Gedenkorten immer noch zuzunehmen, immer mehr treten sie in Konkurrenz um öffentliche Wahrnehmung und Repräsentation. Das zeigt die Lautstärke der Vermarktung, für die Filme wie Dani Levys “Hitler“ oder der “Untergang“ nur zwei unter vielen anderen Beispielen sind. Hinter Diskussionen um Strategien der Repräsentation und Präsentation, hinter dem ritualisierten Dauergerede drohen die historischen Ereignisse, droht deren Kenntnis abhanden zu kommen, fallen der Verfälschung oder Manipulation anheim. Das in den Medien produzierte Bildgedächtnis verstellt längst sogar das, was noch zu sehen ist: so suchen viele Besucher der Gedenkstätte Auschwitz inzwischen nicht nach den historischen, sondern nach den Dreh-Orten von “Schindlers Liste“.

Dass mit dem zeitlichen Abstand Erinnerung sich verändert, ist notwendig und zwangsläufig. Diejenigen, deren Lebensgeschichte sie zu Zeitzeugen gemacht hat, die erzählen, die Überlieferung beglaubigen, bezeugen, ihr widersprechen können, sterben, die Bedeutung “externer“ Gedächtnisspeicher, zum Zweck des Gedenkens errichtete/eingerichtete Gebäude, Mahnmale, Museen, andere Medien werden wichtiger. Diese, nach der verbreiteten Schematisierung von Jan und Aleida Assmann als Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis verstandene, Phase, hat Folgen für das, was und wie erinnert wird: “Erinnerungen“, die im Prozess der Mitteilung von Selbsterlebtem in Bewegung gehalten werden, formbar und veränderlich scheinen, werden fixiert in “Denkmalen“, und Denkmale führen zur Standardisierung von Themen und Aussagen, prägen, was sich an Deutungen der Vergangenheit durchsetzt. Die Erinnerungsarbeit wird professionalisiert durch Historiker und Pädagogen, ritualisiert in öffentlichen Gedenkveranstaltungen, banalisiert als events der Kulturindustrie. Solche Entwicklungen drohen andere Gedächtnisgeschichten, die weniger aufsehenerregenden, kleinen Geschichten von Menschen, von Dingen, zu verdrängen - die Geschichte droht im Gedenken zu verschwinden, eine besondere Weise des Vergessens durch Erinnerung.

Man wünschte sich gelegentlich ein Innehalten, ein Moratorium, um nachdenken zu können über neue Formen des Gedenkens. Aber die Frage “Genug erinnert?“, mit der vor etlichen Jahren Karl Fruchtmann, der Bremer Filmautor, eine Vortragsreihe eröffnete, ist keine Frage, die sich eindeutig beantworten ließe.

62 Jahre – 1945-2007 - sind eine lange Zeit, gemessen an den 12 Jahren NS-Geschichte. Dan Diner hat 1995 für diese 12 Jahre den Begriff “Gestaute Zeit“ geprägt, weil sie sich nicht in herkömmliche Erzählweisen überführen lassen, die sich nach den Regeln kausaler Verknüpfung und zeitlicher Abfolge entwickeln. Der Charakter der Massenvernichtung, die “abstrakte, statistisch erfasste Vervielfältigung eines sich gleichförmig wiederholenden Todes – bürokratisch und industriell, und dies in einem äußerst kurzen, gleichsam zeitlich gepressten Zeitraum: 1941-1944 - entzieht dem Geschehen ein vom Bewusstsein eingefordertes angemessenes Narrativ“. Eben darum muss diese Geschichte immer wieder in vielen einzelnen Erzählungen entfaltet werden, und noch immer wird mit der zeitlichen Entfernung unsere Kenntnis der Orte, der Täter und der Opfer größer und spezifischer – und immer ist es, um den Titel eines Aufsatzes von Ulrich Herbert, dem Freiburger Zeithistoriker, zu zitieren, noch “viel furchtbarer als wir dachten“.

Eine der notwendigen individuellen Erzählungen, die uns diese Einsicht in die Furchtbarkeit und in die Beschränktheit dessen, was wir denken und erzählen können, ermöglichen, ist die von Petr Ginz. Er wurde im Alter von 14 Jahren 1942 zunächst nach Theresienstadt deportiert, das unter den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und “Ghettos“ eine besondere, die vielleicht unheimlichste Rolle spielt.
Denn Theresienstadt war ein Potemkinsches Dorf: ein Ort der Täuschung und Irreführung seiner jüdischen Bewohner oder vielmehr Häftlinge, der sich nur in Verbindung mit Auschwitz-Birkenau erschließt, dem Zielort vieler Transporte, die aus Theresienstadt abgingen. Bereits am 19. Januar 1942 – 8 Wochen nach der Errichtung des Lagers - stattete Eichmann Theresienstadt einen Besuch ab. Er war auf dem Weg zur Wannseekonferenz am 20. Januar, auf der die sogenannte “Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde. Nach seinen Worten (6. März 1942) diente Theresienstadt der nationalsozialistischen Führung dazu, “nach außen das Gesicht zu wahren.“ Theresienstadt war in der Rhetorik der Nationalsozialisten ein “sich selbst verwaltendes jüdisches Siedlungsgebiet“ unter den Augen der SS. Das hieß: die Verwaltung und Organisation des Alltagslebens in dem zunehmend völlig überfüllten Lager (etwa 60000 Häftlinge auf 350000 qm), dessen Bewohner an Seuchen und Hunger litten und starben, und die Verwaltung und Organisation von “Kultur“ wurden den Häftlingen überlassen.
Im November 1941 kam der erste und sogenannte “Aufbau-Transport“ nach Theresienstadt, vor allem Zionisten aus Böhmen und Mähren, die die beschauliche ehemalige Garnisonsstadt Maria Theresias für ihre Ghetto-Funktion instand setzen mussten. Bis Sommer 1942 hofften die nach Theresienstadt deportierten Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren dort unter zwar schweren Bedingungen überleben zu können. Ab Sommer 1942 aber kamen fast täglich Transporte aus Deutschland und Österreich an. Der Altersdurchschnitt der neu Eintreffenden lag bei über 70 Jahren, viele wurden nur umgeladen nach Treblinka und Birkenau, diejenigen, die blieben, wurden von den tschechischen, zionistisch orientierten Juden als Eindringlinge empfunden. Sie waren in der Mehrheit assimilierte deutsche Juden. Ihre Ankunft und die daraus folgende katastrophale Überbelegung des Lagers sprengte jede bis dahin erreichte Organisation, die Feindseligkeiten zwischen den Nationalitäten und Mentalitäten war groß.

Es waren, schreibt W.G. Sebald in seinem Roman “Austerlitz“
[...] Industrielle und Fabrikanten, Rechtsanwälte und Ärzte, Rabbiner und Universitätsprofessoren, Sängerinnen und Komponisten, Bankdirektoren, Kaufleute, Stenotypistinnen, Hausfrauen, Landwirte, Arbeiter und Millionäre, Leute aus Prag und aus dem übrigen Protektorat, aus der Slowakei, aus Dänemark und aus Holland, aus Wien und München, Köln und Berlin, aus der Pfalz, aus dem Mainfränkischen und aus Westfalen, von denen ein jeder mit zirka zwei Quadratmeter Wohnplatz auskommen mußte und die alle, wofern sie irgendwie dazu imstande waren, beziehungsweise bis sie, wie es hieß, einwagoniert und Richtung Osten weitergeschickt wurden, ohne die geringste Entlohnung zur Arbeit verpflichtet gewesen sind in einer der von der Abteilung für Außenwirtschaft zur Profitschöpfung eingerichteten Manufakturen, in der Bandagistenwerkstatt, in der Taschnerei, in der Galanteriewarenproduktion, in der Holzsohlen- und Rindsledergaloschenerzeugung, auf dem Köhlerhof, bei der Herstellung von Unterhaltungsspielen wie Mühle, Mensch ärgere dich nicht und Fang den Hut, beim Glimmerspalten, in der Kaninchenhaarschererei, bei der Tintenstaubabfüllung, der Seidenraupenzucht der SS oder in den zahlreichen Binnenwirtschaftsbetrieben, in der Kleiderkammer, den Bezirksflickstuben, der Verschleißstelle, im Lumpenlager, bei der Bucherfassungsgruppe, der Küchenbrigade, der Kartoffelschälerei, der Knochenverwertung oder im Matratzenreferat, im Kranken- und Siechendienst, bei der Entwesung oder Nagerbekämpfung, im Ubikationsamt, in der Zentralevidenz, in der Selbstverwaltung [...]. (S. 335-337)

Nur vor diesem Hintergrund mag man eine Ahnung dessen bekommen, was “Kultur“ für die noch verbleibende Existenz von Häftlingen in Theresienstadt bedeutete. Dort wurde ein in seinen Dimensionen und seiner Qualität überwältigendes Projekt inszeniert, mit dem die Zwangsgemeinschaft des Lagers ein zwar ohnmächtiges, erschütterndes Zeichen gegen die mörderischen Pläne der SS setzte: es gab ab Herbst 1942 eine Bibliothek, Vortragsreihen, Konzerte, Lesungen, Kabarett, Theater, Opern, alles eingerichtet und veranstaltet von Akademikern und Künstlern, darunter viele von europäischer Prominenz. Diese ungeheure Anstrengung zur “Kultur“ war Überlebensversuch, sie ist aber auch, so vom wichtigsten Chronisten und Überlebenden des Lagers, H. G. Adler, kritisiert worden. Mit der berüchtigten Verschönerungsaktion im Lager, die dem Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes im Frühsommer 1944 voraufging und zeitgleich gefilmt wurde unter dem Titel “Der Führer schenkt den Juden eine Stadt “ sei, so Adler, die “beabsichtigte Täuschung der Fremden [...] zur Selbsttäuschung der Gefangenen“ geworden. Die Rote-Kreuz-Delegation war von ihrem Besuch im Juni 1944 beeindruckt, sie verzichtete auf den anschließend geplanten und von Himmler bereits genehmigten Besuch in einem “jüdischen Arbeitslager“.

Im Herbst 1944 wurden noch einmal 18000 Gefangene aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Einer von ihnen war Petr Ginz. Petr Ginz verdanken wir Einblicke in und Dokumentation von Lagerleben, wie sie wegen der dort vorhandenen Möglichkeiten zu zeichnen und zu schreiben nur von Theresienstadt überliefert sind. Ich will sie hier nicht kommentieren, sondern nur hinweisen auf die Versuche, seine Erfahrungen sichtbar zu machen durch große Detailnähe und gleichzeitige Herstellung von Distanz, die, wie seine berühmt gewordene Zeichnung heißt, die Erde vom Mond aus betrachtet und nicht vorgibt, sie noch verstehen und erzählen zu können. Darin ähnelt er einem anderen Halbwüchsigen, Hauptfigur in Imre Kertesz “Roman eines Schicksallosen“. Dieser, der Auschwitz und Buchenwald überlebt hat und zurückkehrt, hätte vielleicht Petr Ginz sein können, und vielleicht hätte er die Unüberbrückbarkeit und Nichtmitteilbarkeit seiner Erfahrung ähnlich beschrieben wie Kertesz das Treffen dieses jugendlichen Ich-Erzählers mit einem wohlmeinenden Mann in Budapest:

“Du hast wahrscheinlich viel gesehen, mein Junge, viele Greuel", meinte er da, und ich habe nichts gesagt. "Na ja", fuhr er fort. "Hauptsache, es ist aus und vorbei", seine Miene hellte sich auf, er zeigte auf die Häuser, an denen wir gerade vorbeirumpelten, und erkundigte sich, was ich jetzt wohl empfand, wieder zu Hause, beim Anblick der Stadt, die ich damals verlassen hatte. Ich sagte:"Haß". Er schwieg eine Weile, bemerkte dann aber, er müsse mein Gefühl leider verstehen. Im übrigen habe, "je nach den Umständen", so meinte er, auch der Haß seinen Platz, seine Rolle, "ja seinen Nutzen", und er nehme an, fügte er hinzu, wir seien uns da einig, und er wisse wohl, wen ich haßte. Ich sagte:"Alle". Er schwieg wieder, dieses Mal etwas länger, und fragte dann: "Hast du viel Schreckliches durchmachen müssen?", und ich sagte, es käme darauf an, was er unter schrecklich verstehe. Bestimmt, sagte er da, mit einem etwas unbehaglichen Ausdruck im Gesicht, hätte ich viel entbehren, hungern müssen, und wahrscheinlich sei ich auch geschlagen worden, und ich sagte:"Natürlich". "Lieber Junge", rief er da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor, "warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!" Ich sagte, im Konzentrationslager sei so etwas natürlich. "Ja, ja", sagte er, "dort schon, aber ...", und hier stockte er, zögerte er ein bißchen, "aber...ich meine, das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!", endlich hatte er gewissermaßen das richtige Wort erwischt, und ich erwiderte dann auch nichts darauf, denn ich begann almählich einzusehen: über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen. (S. 270-271)

 
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